
Als Frankreichs Präsident Macron das Rentenalter auf 64 Jahre anheben will, legen Proteste das Land lahm. Wie erklären Sie sich die Wut der Franzosen?
Wer am Dienstag in Paris ankommen will, braucht starke Nerven – und viel Geduld. Die Metro, die täglich rund vier Millionen Fahrgäste durch die Hauptstadt befördert, funktioniert nur noch sporadisch. Im Fernverkehr fallen zwei von drei Verbindungen mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV aus.
Vielerorts müssen Eltern mit kleinen Kindern die Kinderbetreuung selbst organisieren, und etwa die Hälfte aller Grundschullehrer in Frankreich unterrichten nach Gewerkschaftsangaben nicht. Mancherorts dürfte sogar der Treibstoff ausgehen – denn auch in den Raffinerien und Tanklagern von Total gehen viele Mitarbeiter weg.
Frankreich befindet sich im Ausnahmezustand. Von Marseille bis Tours und von Paris bis Calais – überall im Land sind Franzosen auf den Straßen, die ihrer Wut Luft machen. Auslöser dafür: die von Emmanuel Macron geplante Rentenreform.
Nachdem der erste Reformversuch in der letzten Einberufung gescheitert war, will der Präsident nun aufgeben und das Rentenalter von 62 auf 64 anheben. Es ist wahrscheinlich das heikelste Projekt seiner zweiten Amtszeit.
Denn während die Deutschen 2007 eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 akzeptierten, legten Demonstranten in Frankreich am Dienstag zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit das Land lahm. Bereits während des ersten Streiks am 19. Januar folgten nach Angaben des Innenministeriums mindestens eine Million Menschen dem gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaft. Noch mehr Menschen gingen am Dienstag in mehreren Großstädten auf die Straße.
Der Gewerkschaftsführer sprach im Vorfeld von der „Mutter aller Kämpfe“. Wie ist der Ärger der Franzosen über ein auf den ersten Blick moderates Reformvorhaben zu erklären?
“So eine brutale Reform”
Viele Demonstranten stellen sich grundsätzlich die Frage, ob “solch brutale Reformen” (wie es in einem Protestaufruf heißt) überhaupt notwendig sind. “Umlagesystem ist nicht in Gefahr”, sagen die Gewerkschaften – und verweisen unter anderem auf die hohe Beschäftigungsquote.
Präsident Macron hingegen sieht das ganz anders. Eine Reform sei notwendig, “um das System zu retten”, sagte er am Montag und machte die Anhebung des Eintrittsalters “unerlässlich”.
Fakt ist: In Frankreich ist die Alterung der Gesellschaft nicht so gravierend wie in Deutschland, aber auch dort sinkt die Geburtenrate. Die Pensionskasse weist derzeit ein Plus aus. Experten schätzen, dass es bis 2030 in ein Defizit von 14 Milliarden Euro schlittern wird.
Was viele für unfair halten
Die Details der Pläne stoßen auf Missverständnisse. Gewerkschaften kritisieren, dass die Reform besonders diejenigen trifft, die keinen langen Bildungsweg angetreten, sondern früh ins Berufsleben eingestiegen sind. Viele in Frankreich halten das für unfair.
„Für die Franzosen geht es bei den Protesten um Gerechtigkeit“, sagt der Frankreich-Experte Dominik Grillmayer vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg im Gespräch mit t-online.
Dominik Grillmayer
ist Politikwissenschaftler und Leiter der Abteilung „Gesellschaft“ am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Seine thematischen Schwerpunkte sind Reformpolitiken im Bereich der sozialen Sicherheit.
Schon bei der vorangegangenen Reform sei beschlossen worden, dass die Pensionskasse künftig 43 Jahre in die Pensionskasse eingezahlt werde, erklärt der Politologe, obwohl nun die Einführungsfrist verschoben werden solle.
Unter dem Strich bedeutet eine Anhebung des Mindestrentenalters auf 64 Jahre, dass diejenigen, die früher 43 Dienstjahre absolviert hätten, noch länger arbeiten müssten.
Hat Macron Unrecht?
Dass es Macron ist, der diese Reform nun durchsetzen will, dürfte den Pushback befeuern. Viele Franzosen, vor allem im linken politischen Spektrum, sind desillusioniert vom Präsidenten. Vor seiner ersten Amtszeit hat er einen radikalen Mitte-Rechts-Kurs eingeschlagen, er wollte das Links-Rechts-Spektrum durchbrechen und wandte sich dabei auch an Menschen links der Mitte. „Allerdings ist die breite Öffentlichkeit zu dem Schluss gekommen, dass Macron zur konservativen Seite tendiert“, sagt Experte Grillmayer.